Kurzgeschichten > 59

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„Lebt wohl“, sagte er und schaltete das Kommunikationsmodul ab.
Ruhe.
Stille sogar.
Und ein unbeschreiblich schöner Blick auf die Erde. Der blaue Planet zeigte sich ihm mit ganzer Pracht. Tiefblaue Ozeane mit weißen Wolkenbändern. Für ihn unsichtbar bereitete sich Amerika auf den kommenden Tag vor, während man in Europa bereits an den Feierabend dachte und Asien im Tiefschlaf sein sollte. Immerhin konnte er Europa sehen und es tat gut, einen Blick auf die Heimat zu haben.
Er atmete tief durch.
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Drei Stunden war es her, als er sich aus dem Sicherungsseil ausklinken musste, um zu einem anderen Modul zu kommen. Es konnte niemand ahnen, dass der Mini-Meteorit genau in diesem Moment in seine Antriebseinheit einschlug und die Leiterplatten des Steuerungscomputers beschädigte.
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Fast eine Stunde lang beschleunigte ihn die Hauptdüse auf dem Rücken wie „Rocketman“. Die darauffolgende halbe Stunde hatte er mit der Zentrale von der Raumstation verbracht, um seine Systeme zu analysieren und teilweise neu zu starten. Er hatte die Kontrolle über das Antriebssystem seines Raumanzuges wiederbekommen. Doch der verbliebene Treibstoff reichte kaum, um seine Geschwindigkeit zu drosseln. Er versuchte es nicht einmal. Er wollte bis zum Schluss wenigstens Navigieren können.
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Anschließend folgten endlose Diskussionen über Rettungsversuche, die alle in zwei Tatsachen endeten. Erstens: Er konnte mit eigener Kraft den Schub nicht umkehren, um zurückzukommen, und Zweitens: Es war Nichts und Niemand in der Lage, ihn in weniger als vier Stunden einzuholen und ihn dann zurückzubringen.
Die Raumschiffe waren weit entfernt unterwegs oder gerade auf der Erde. Raumanzüge und Roboter hatten die gleiche Beschleunigung wie er selbst und würden immer eine Stunde hinter ihm sein.
Aber vielleicht könnte man einen … „HALT!“
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Deshalb hatte er das Kommunikationsmodul abgeschaltet. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken, was man alles für seine Rettung versuchen könnte. Nun lag es einfach nicht mehr in seiner Macht. Er wollte diese voraussichtlich letzten Augenblicke seines Lebens bewusst erleben und genießen. Alle seine Systeme – vor allem die Lebenserhaltungssysteme – arbeiteten normal. Sein Raumanzug war angenehm klimatisiert. Er hatte sogar Wasser und Nahrung für zwei Tage. Einzig der Sauerstoff reichte nur noch für
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Minuten.
Er schloss die Augen, atmete gleichmäßig durch und versuchte runterzukommen, ausgeglichener und entspannter zu werden. „Dir geht es gut!“, ermahnte er sich selbst.
„Dann schauen wir doch mal, wo die Reise hingeht.“ Die Navigationsdüsen zischten ein paar Mal, dann hatte er die Erde im Rücken und den Blick in das All gerichtet. Die Unendlichkeit schien greifbar zu sein; er war ein Teil davon. Er fühlte sich gleichermaßen unendlich und winzig. „Der Weltraum, unendliche Weiten …“, fiel ihm bei dem Anblick ein.
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Dabei erinnerte er sich an wunderbare Nachmittage seiner Kindheit, an denen er sich mit seinem Schulfreund Max die alten „Star Trek“ Folgen aus dem Schrank seiner Eltern angeschaut hatte. Damals wurde sein Wunsch geboren, Astronaut zu werden. Der Wunsch manifestierte sich und er arbeitete stetig in diese Richtung und das hat ihn letztendlich hierhergebracht. Hier ins Weltall. In das Vakuum.
Bei seinem Freund Max hatte die Inspiration eine andere Wendung genommen. Max widmete sich dem Übermodell in Religion und Kunst. Er studierte Theologie und feilte an seiner Musikkarriere als Saxophonist.
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Max hatte an diesem Nachmittag Probeaufnahmen in einem Tonstudio und spielte das beste Solo seines Lebens. Sein Saxofon war in der kurzen Jamsession zum Teil seines Körpers geworden. Takt und Melodie spielten kaum noch eine Rolle und trotzdem war jeder Ton perfekt. Wie in Trance kehrte er dabei seine Seele durch das Instrument nach außen und brachte so alle im Studio zum Weinen.
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Anschließend ging er vom Studio direkt in den Park, setzte sich auf eine Bank und blickte in den Himmel. Beim Spielen hatte er sich unendlich gefühlt und beim Anblick des Himmels kam die Erinnerung an die „unendlichen Weiten“ zurück. Er erinnerte sich an alte „Star Trek“ Folgen und an seinen Schulfreund Sebastian. Er hatte gehört, dass Sebastian zu einem Weltraumflug ausgewählt wurde und wahrscheinlich genau in diesem Moment über ihm kreiste.
Mit einem Lächeln schaute Max in den Himmel. Nicht ahnend, dass er seinen Freund Sebastian direkt ansah.
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Für einen kurzen Augenblick fühlte sich Sebastian beobachtet. Die Erinnerungen an seine Kindheit, an zu Hause, an Freunde und Familie brachten Geborgenheit, welche sich im Anblick des Weltalls in Einsamkeit verlor. „Familie!“ Wieso dachte er erst jetzt daran? Hastig schaltete er das Kommunikationsmodul wieder an.
„Zentrale? Zentrale, hören Sie mich?“
„Sebastian, na endlich. Pass auf! Wir haben die Chinesen erreicht. Die haben ein Raumshuttle in der Nähe und sind schon auf dem Weg zu dir.“
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„Sebastian? Hast du verstanden? Sebastian?“
„Ja, hab‘ ich“, erwiderte er. „Aber erst etwas anderes. Könnt ihr meine Frau ans Telefon holen?“
„Wenn die Chinesen dich …“
„Hey!“, unterbrach Sebastian das Gespräch. „Könnt ihr meine Frau ans Telefon holen?“
„Aber …“
„Nein. Ich will mit meiner Frau sprechen.“
Es entstand eine kurze Pause.
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„Ja, das müssten wir einrichten können.“
„Gut, dann macht das. Die Chinesen sollen ruhig kommen. Ich werde auch winken, wenn ich sie sehe. Okay?“
„Alles klar, Sebastian. Ich versteh schon. Wir melden uns, sobald Melanie am Telefon ist. Halt durch!“
Es klickte noch kurz im Lautsprecher, dann war er wieder allein.
„Melanie – was für ein Prachtweib", dachte er und grinste. Sie hatten sich in den Semesterferien am Strand kennengelernt.
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Sebastian war damals mit zwei Freunden und seinem zwölfjährigen Neffen spontan an die Ostsee gefahren. Zwar hatten sie noch schnell ein Zelt organisiert, jedoch schon auf der Fahrt festgestellt, dass die Heringe für den Aufbau fehlten. Also legten sie sich mit ihren Schlafsäcken einfach an den Strand. Erst am dritten Tag bemerkte er, dass sie von zwei hübschen Frauen beobachtet wurden. Das Urlaubsfeeling unterstützte dann das schnelle Kennenlernen und so lag er mit Melanie noch an diesem Abend knutschend in seinem Schlafsack.
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Am nächsten Tag fuhren Melanie und ihre Freundin wieder nach Hause. Sebastian kannte aber nur ihren Vornamen und wusste, dass sie Schwesternschülerin in Magdeburg ist. Die Woche darauf fragte er in jedem Schwesternwohnheim in Magdeburg nach Melanie, bis er sie gefunden hatte. Zwei Tage hatte es gedauert.
Es folgte eine wundervolle Zeit des Kennenlernens und gegenseitiger Besuche.
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„Hallo Sebastian? Hörst du mich?“
„Ja", antwortete er genervt, da er aus den Gedanken gerissen wurde.
„Melanie hat ihr Handy ausgemacht. Dein Bruder hat gesagt, dass sie bei einem Fußballspiel ist.“
„Das Halbfinale“, murmelte Sebastian.
„Wie bitte?“
„Das Halbfinale“, sagte Sebastian lauter. „Heute ist das Halbfinale der Jugend-Kreis-Liga. Unser Sohn spielt da mit.“
„Es wird also ein bisschen dauern, sie ans Telefon zu bekommen.“
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„Ist gut“, resignierte Sebastian.
„Also, die Chinesen sind nicht erst seit zehn Minuten unterwegs. Sie haben eine Weile gebraucht zuzugeben, dass sie uns schon seit Monaten belauscht haben. Sie haben gleich ein Raumschiff startklar gemacht und sind seit zwei Stunden unterwegs. und jetzt, wo wir mit ihnen in Kontakt sind, konnten wir ihnen deine genaue Position übermitteln.“
„Ist gut.“
„Hast du nicht verstanden?“
„Doch, hab‘ ich.“
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„Wir haben ihnen auch deine Frequenz gegeben, also wundere dich nicht, wenn du plötzlich Chinesisch in Deinem Helm hörst. Du bist nicht verrückt.“
„Ich will mit Melanie reden, nicht mit den Chinesen.“
„Ich weiß, aber die Chinesen haben gesagt, dass …“
„HOLT MIR MELANIE ANS TELEFON!“, schrie Sebastian seinen Kollegen an.
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Sebastian wurde wütend.
„Ich weiß. Sebastian, beruhige dich wieder!“
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„ICH WILL MIT…“ Sebastian stockte und starrte auf die Anzeige für den Sauerstoff.
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Minuten.
„Verdammt!“, sagte er und versuchte sich zu beruhigen.
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„Was ist los“, fragte sein Kollege.
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„Ich verbrauche den Sauerstoff zu schnell.“
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„Jetzt sehe ich es auch. Sebastian, du musst dich wieder beruhigen.“
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„Ja.“
„Wir holen Melanie ans Telefon. Das wird schon klappen.“
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Sebastian schloss die Augen und versuchte langsam und gleichmäßig zu atmen.
„Hey, ich höre gerade, dass dein Bruder unterwegs zu ihr ist. Wir schaffen das!“
Warum war er eigentlich so wütend? Er wusste doch, dass alle ihr Bestes geben, damit man ihm seinen letzten Wunsch erfüllt.
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Er war auf sich selbst wütend. Ganz einfach. Es ging nicht um diese Situation, um den Sauerstoff oder um das Telefon. Er war sauer, dass er Melanie betrogen und ihr das nie gesagt hatte. Es war viele Jahre her und es war auch nur ein mal. Trotzdem hatte er das Verlangen, es ihr zu beichten.
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Er hätte es ihr so gern gesagt. Aber war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür? Sollte das das Letzte sein, was sie von ihm hört?
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Er hatte es damals Max erzählt. Zwei Monate lang diskutierten sie die Situation so oft es ging. Bis Max ihm vorgeschlagen hatte, das Thema für immer zu begraben. „Quäl dich nicht länger. Tu es nie wieder und lass es gut sein“, sagte Max damals.
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Und Sebastian folgte diesem Rat. Er hatte nie wieder etwas mit einer anderen. Er liebte Melanie nach diesem Vorfall sogar noch mehr als zuvor.
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„Was willst du ihr denn sagen?“, dachte er.
„Dass ich sie liebe!“, beantwortete er die Frage.
„Ich liebe dich, Melanie“, flüsterte er und wurde dadurch ruhiger. „Ich will ihr nur sagen, dass ich sie liebe, das ist alles. Das ist alles, was ich sagen muss. Das ist alles, was ich sagen will."
Seine Wut legte sich.
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Die Anzeige, wie lange der Sauerstoff noch reichen würde, beruhigte sich auch.
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„Melanie, ich liebe dich!“
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„Ja, Sebastian, ich weiß. Sag ihr das gleich selber. Dein Bruder ist unterwegs.“
„Oh, hab‘ ich das laut gesagt?“
Beide lachten. Und es tat gut, zu lachen.
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„Na gut“, sagte Sebastian. „Was ist mit den Chinesen? Kommen sie bald hier um die Ecke?“
„Warte kurz, ich frage nach“, antwortete sein Kollege aus der Zentrale.
Wieso sollte er die Hoffnung aufgeben, gerettet zu werden? Und je mehr er von den Chinesen wusste, desto besser könnte er mithelfen die Erfolgschancen seiner eigenen Rettungsmission zu verbessern.
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„Chi Chi“, dachte er. Das soll wohl „Danke“ auf chinesisch heißen. Zumindest hatte er das in diversen Filmen gehört.
Und er wusste, dass die Asiaten sehr viel Wert auf Höflichkeit legen. Deshalb wollte er nach seiner Rettung auf jeden Fall den nötigen Respekt zollen, den sie verdienten.
„Chi Chi.“
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„Hallo Sebastian?“
„Ja, ich bin hier.“
„Ich habe schlechte Nachrichten, die blöden Chinesen kannten nach dem Unfall Deine Position und Richtung nicht, daher hatten Sie Kurs auf die Station gemacht.“
„Und was bedeutet das?“, fragte er.
„Es bedeutet, dass die Chinesen genauso weit weg sind, wie alle anderen, und wir dich frühestens in einer Stunde erreichen.“
„Chi Chi“, sagte Sebastian frustriert.
„Was?“
„Danke für nichts.“
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„Tut mir leid.“
„Schon gut, ich hatte mir nur gerade wieder Hoffnung gemacht.“ Sebastian schluckte und unterdrückte das Bedürfnis zu weinen. „Holt mir wenigstens Melanie ans Telefon, okay?“
„Ja, wir sind dran. Gib nicht auf, hörst du!“
„Meldet Euch, wenn ihr sie habt.“
Sebastian betätigte die Steuerungsdüsen und drehte sich wieder so, dass er die Erde sah. Er genoss den Anblick. Tiefblaue Meere. Weiße Wolkenbänder. Für diesen Anblick lohnt es sich zu sterben, dachte er.
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Er beobachtete, wie sich die Wolkenformationen langsam veränderten. Er suchte Europa nach Städten ab und vermisste die Markierungen von Grenzen. Aber diese Bilder waren real – keine Karten, kein Fernsehbild, keine Einblendungen von zusätzlichen Informationen. Er war im Weltall und hatte den besten Ausblick auf die Erde, den man sich vorstellen kann.
Ein Gedanke kam ihm dabei: So sieht Gott also die Erde. Nur dass ER wahrscheinlich ein besseres Zoom hat.
Gott. Apropos Gott. In
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Minuten würde er seinem Schöpfer gegenüberstehen.
„Was sag ich IHM denn dann?“, fragte er sich. Wahrscheinlich war jetzt der beste Zeitpunkt ein Gebet zu sprechen, aber ihm fehlten die Worte. Schweigend, auf die Erde blickend, trieb er durch den Weltraum.
Stille.
Sein Mund wurde trocken und er nahm einen Schluck Wasser aus einem Schlauch des Raumanzuges. Trotz Schwerelosigkeit spürte er, wie sich das kühle Wasser seinen Weg durch die Brust hinunter zum Magen bahnte.
„Danke“, begann er zu beten. „Danke für mein Leben.“
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Er hatte den Eindruck, dass die Erde kleiner wurde. Kein Wunder, dachte er. Schließlich entfernte er sich mit rund 6000 Kilometern pro Stunde von seinem Heimatplaneten. Von Null auf Hundert in sechzig Sekunden. So schnell war die Beschleunigung gar nicht gewesen. Das Problem war nur, dass die Beschleunigung erst nach einer Stunde gestoppt wurde.
Hier draußen, am Ende seiner Zeit, spielten Zahlen kaum noch eine Rolle. Nur eine Zahl hatte noch Bedeutung: Die Zeitanzeige, wie lange der Sauerstoff noch reichen würde.
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Wo blieb eigentlich Melanie?
„Zentrale. Wo bleibt Melanie?“
„Dein Bruder sagte gerade, dass er in fünf bis zehn Minuten am Fußballplatz ist.“
„Der soll sich nicht so anstellen und schneller fahren“, fing Sebastian an zu meckern. „Der kleine Penner hält sich bestimmt noch in der Stunde meines Todes an die Verkehrsregeln.“
„Er fährt so schnell er kann.“
„Darf, nicht kann“, dachte er.
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Sein kleiner Bruder liebte es schon als Kind, sich an Regeln zu halten. Das schlimmste war, sich nicht an die Spielregeln von irgendwelchen Brettspielen zu halten. Da konnte er richtig ausrasten. Und Sebastian als großer Bruder liebte es dagegen, die Regeln zu missachten und Oskar damit aufzuziehen.
Aber Reibereien zwischen Brüdern sind doch normal, oder?
„Man Oskar, gib einfach Gas“, dachte er.
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„Zentrale. Habt ihr Oskar in der Leitung?“
„Ja. Wir stehen in ständigem Kontakt, seit er zu Melanie unterwegs ist.“
„Dann stellt ihn zu mir durch.“
Die Leitung wurde still und er wartete, bis ein Knacken zu hören war.
„Hey Ossi. Stehst du mit deinem Bleifuß wieder auf der Bremse?“
„Nur weil du als Außerirdischer mal nach Hause telefonieren willst, musst du nicht gleich sentimental werden, oder?“
„Ich weiß“, gab Sebastian zu. „Schön dich zu hören.“
„Dich auch. Wie geht’s dir da oben?“
„Na wunderbar. Tolle Aussicht. Der Service könnte besser sein, aber sonst: Richtig klasse hier.“
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Die runterzählende Anzeige ließ ihn auf weitere Witze verzichten. „Wie weit bist du?“
„Noch einen Kilometer, dann bin ich am Platz“, antwortete Oskar.
„Sag Mama und Dad, dass ich sie lieb habe, ja?“
„Das kannst du schön selber machen“, motzte Oskar zurück.
„Klar, mach ich.“
„Und da wir gerade dabei sind, du schuldest mir immer noch 20 Euro von der Pokernacht.“
„Was?“, fragte Sebastian verwundert.
„Glaub ja nicht, dass du dich einfach zum Mond oder Mars verpissen kannst und ich das so einfach vergesse.“
Damit hatten die beiden Brüder die wichtigen Dinge geklärt.
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„Gib einfach Gas, Ossi.“
Kurz waren quietschende Reifen und lautes Hupen zu hören.
„Hast du grad ne rote Ampel überfahren?“
„Halt einfach die Schnauze, ja?“
Sebastian lachte.
„Wenn ich gleich da bin, werde ich rennen und Melanie suchen. Also quatsch einfach nicht soviel dazwischen.“
„Alles klar Oskar. Ich danke dir!“
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Er überprüfte routinemäßig alle Systeme und Anzeigen, um sich abzulenken.
„Na mach schon“, dachte er und fing an zu beten. „Lieber Gott lass meinem Bruder Melanie schnell finden. Bitte lass mich noch einmal mit meiner Frau sprechen.“
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Er wusste, dass es besser war, nicht alle halbe Minute nachzufragen, wie weit er ist. Daher schaute er auf die Erde und versuchte ruhig zu bleiben.
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„Sebastian“, meldete sich die Zentrale. „Können wir noch irgendwas tun?“
Er überlegte und wollte schon „nein“ sagen. „Doch, ja“, sagte er. „ Ich weiß, dass ihr immer mithören könnt, auch wenn ich mein Kommunikationsmodul ausschalte.“
„Aber das ist doch …“
„Bitte! Wenn es so weit ist. Bitte hört nicht zu. Bitte lasst mich allein sterben!“
Die Zentrale blieb stumm.
„Bitte! Versprecht es mir.“
Nach einer Weile kam die Antwort: „Ist gut. Wir versprechen es.“
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Sebastian merkte, wie angespannt der Kollege in der Zentrale war. Die Leitung war noch offen und er konnte deutlich hören, wie schwer der Kollege atmete. Trotzdem es um sein eigenes Leben ging, tat ihm der Kollege leid. Was soll man schon einem Todgeweihtem sagen? Er überlegte kurz und sagte dann: „Danke.“
„Was? Wofür?“, fragte der Kollege zurück.
„Dafür, dass ihr alles macht, um meinen letzten Wunsch zu erfüllen.“
„Das ist doch selbstverständlich.“
„Trotzdem, danke.“
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Die Erde war wieder ein Stück kleiner geworden. Er nahm einen Schluck Wasser und fühlte sich ein bisschen wie im Kino. Fehlt nur noch das Popcorn, dachte er. In Filmen konnte man aus einer solchen Perspektive das Ende der Welt sehen. Hier schaute er auf die Erde und diese wiederum konnte nun sein Ende sehen. Welch Ironie.
„Wo bleibt Melanie nur?“
Er hörte ein Räuspern und dann die Antwort: „Es ist wohl gerade Halbzeit. Dein Bruder sucht bei den Toiletten nach ihr.“
„Au man, was für ein Scheißtag“, dachte er laut.
Zustimmendes Schweigen von der Zentrale.
Er fing an darüber nachzudenken, ob er in den verbleibenden
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Minuten noch Irgendetwas klären müsste, aber ihm fiel nichts ein. Natürlich hatte er Träume und Visionen. Und es gab viele Dinge, die er gern noch gemacht hätte, Ziele, die er noch erreichen wollte, Personen, die er noch besuchen sollte, Filme, die er noch sehen und Bücher, die er noch lesen wollte. Doch etwas Wichtiges, was er in dieser Situation noch sagen müsste, gab es nicht. Nur seiner Frau, seiner Familie würde er gern noch sagen, dass er sie liebte. Aber auch, wenn er diese Möglichkeit nicht bekommen würde, wüsste Melanie, dass es so war.
Die Erde war wieder ein Stück kleiner geworden.
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Es knackte in den Lautsprechern, dann hörte er Melanies Stimme: „Sebastian?“
„Melanie, na endlich“, schrie er erfreut.
„Na endlich? Oskar hat mir gerade erst das Telefon in die Hand gedrückt.“
„Ja, ich weiß.“
„Jonas hat gerade sein Halbfinalspiel, sie liegen übrigens zwei zu eins vorne. Deshalb ist mein Handy aus.“
„Auch das weiß ich.“
„Wieso rufst Du an? Nicht dass ich mich nicht freue. Schön, dich zu hören. Aber haben wir nicht eigentlich erst morgen Abend Kommunikationszeit? Das bedeutet, du hast eine Sondererlaubnis bekommen. Wie viel Zeit haben wir jetzt?“
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„Ja, eine Sondererlaubnis. So kann man es nennen. Wir haben drei Minuten“, untertrieb er.
„Ach, das ist ja nicht so viel. Letztens hatten wir wenigstens fünf Minuten. Aber gut, es ist ja außer der Reihe und ich bin hier auf dem Fußballplatz. Ich glaube in knapp zehn Minuten geht die zweite Halbzeit los, das passt ja dann gut. Gibt es einen Grund für die Sondererlaubnis mit mir zu telefonieren?“
Sebastian fand keine Worte, sein Mund wurde trocken.
„Du kannst wahrscheinlich wieder nicht so frei sprechen, wie du möchtest – top secret und so. Das kenne ich ja schon.
Sebastian seufzte.
„Gut, dann nutze ich die Zeit. Also meiner Schwester geht es gerade nicht so gut …“
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Er hörte der Stimme von Melanie einfach nur zu. Schon als sie sich kennenlernten, mochte er ihre Stimme, ihren Klang, ihren Sprachrhythmus, ihre Sprachmelodie. Doch in diesem Moment war es wie eine kurze Auszeit. Eine Pause vom Drama. Er hörte einfach nur zu, als ob er Musik eingeschaltet hätte, schaute auf die kleiner werdende Erde und genoss den Moment.
„...und von deinen Eltern soll ich dich auch schön Grüßen. Sie wollten eigentlich morgen bei dem Telefonat mir dir dabei sein, aber ich habe es ihnen ausgeredet. Oh – Moment.“
Eine Kurze Zeit war nichts zu hören.
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„Hey Dad! Wie geht’s dir da oben?“
„Hallo Jonas“, erwiderte er freudig. „Das ist ja klasse, dass ich dich noch höre!“
„Ja man, wir haben ein gutes Spiel. Ich muss auch los – schnell noch den letzten Anschiss vom Trainer vor der zweiten Halbzeit holen. Tschau.“
Sebastians Sichtfeld verschwamm und es bildeten sich Tränenblasen vor seinen Augen. „Verdammt“, murmelte er und schüttelte den Kopf, so dass die Tränenblasen sich von seinem Gesicht lösten.
„Was ist?“, meldete sich Melanie, die sein Murmeln gehört hatte.
„Melanie, du musst mir jetzt zuhören!“
„Ist die Zeit um?“
„Nicht ganz, aber fast.“ Er holte tief Luft und sah, wie eine der Tränenblasen an der Innenseite seines Helms zerplatzte.
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„Ich liebe dich. Ich liebe unsere Familie. Ich liebe unser Leben“
„Das weiß ich“, sagte Melanie.
„Ich werde gleich sterben.“
Melanie schluckte.
„Wir hatten eine tolle Zeit. Ich bereue nichts.“
Melanie fing an zu weinen.
„Pass auf Jonas auf.“
„Ich liebe Dich auch“, schluchzte Melanie.
„Ich liebe dich. Leb wohl“, sagte er und beendete die Verbindung.
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Ohne eine Regung starrte er auf die Erde. „Ich will nicht weinend sterben“, dachte er trotzig. Was konnte er nur gegen den Drang zu weinen machen? Kurzentschlossen zündete er die Navigationsdüsen und fing an, sich im Kreis zu drehen.
Als er die Erde im Sekundentakt vorbeirauschen sah, fing er an zu lachen und steuerte wieder gegen die Rotation an. Er überlegte, wohin er schauen mochte und entschied sich, die Erde hinter sich zu lassen.
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„Zentrale?“, schrie er laut, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Sebastian. Können wir noch etwas für dich tun?“, meldete sich der Kollege.
„Ich hatte euch gebeten, mich allein zu lassen. Ihr seht die Anzeigen ja selbst. Bitte, schaltet jetzt ab.“
„Aber …“
„Nein. Bitte.“
„Gut, Sebastian. Le… . Auf W… .“
Sebastian merkte, wie der Kollege nach Worten rang. „Lass gut sein. Schalt bitte einfach ab.“
„Okay.“
Dann war Ruhe.
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Sebastian lächelte. Der Blick in die Sterne war immer noch atemberaubend schön. Selbst in dieser Situation war der Anblick faszinierend.
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Er schloss die Augen und nahm den letzten tiefen Atemzug voller Sauerstoff. Einen kleinen Moment hielt er den Atem an. Dann öffnete er die Augen und atmete weiter. Jeder folgende Atemzug brachte weniger Sauerstoff mit sich. Die Atmung wurde schneller und flacher bis er hechelte wie ein Hund und schließlich die Atmung zum Stillstand kam.
Er schaute zufrieden mit sich und seinem Leben in die unendliche Weite des Weltalls.


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