Ernst Föhlich > blau oder rot

blau oder rot



Eigentlich hatte ich vergessen, wie Winterklamotten aussehen. Die Winter der letzten Jahre waren mehr als mild. Übergangsklamotten mit `nem gelegentlich zusätzlichen Pulli und Sportschuhe waren klimatisch ausreichend. Doch plötzlich wird es kalt, bitterböse kalt, und das, obwohl es in Berlin immer zwei bis drei Grad wärmer ist als im Umland. Die Schuhe lassen sich mit Einlegesohlen und `nem extra Paar Wollsocken ausstaffieren, auch wenn sie sich dadurch zum nächsten Frühjahr um eine Nummer weiten. Aber oben herum reichts nicht mehr. Zu viele Stofflagen übereinander schaffen Platzangst.
Traurig, aber ich brauche eine Winterjacke. Ich bewege mich, mehr genötigt als motiviert, auf eine Modekettenfiliale zu, deren Initialen ich aus sozial-ethnisch-okonomischen Prestigegründen besser verschweige. Ja, das Hemd ist näher als der Rock und mein Gefriere näher als die globale Gerechtigskeitsfrage; ich muss dazu stehen: ich bin ein unfreiwilliger Globalschmarotzer. Gut und Billig lautet mein Motto. Nach einigem Umherstreifen zwischen den Aushängen, welche zu achtzig Prozent auf Frauen zugeschnitten sind, sehe ich sie, eine schlichte, ansprechende gut gefütterte Winterjacke zu einem Preis, der alle Zweifel an der gerechtfertigten Ausbeutung der Dritte Welt Bevölkerung schwinden lässt. Befriedigt empfinde ich mich am Ziel, als ein neues, alles bisher Erwähnte übertreffendes, Problem zutage tritt: nehme ich die Jacke in blau mit rotem Innenfutter oder in rot mit blauem Innenfutter? Von meiner Grundhaltung her bin ich ja konservativ. Doch dieses Rot hat etwas für sich. Nicht grell, nicht aufdringlich, nur vorgeprägt feminin.
Ich probiere beide Varianten: blau und rot. Blau, angenehm, ästhetisch, vertraut; Rot, angenehm, ästhetisch, unvertraut. Ich bin hin und her gerissen und komme beim Hin und Her probieren derart ins Schwitzen, dass ich mich mittlerweile frage, ob ich mir den Frost da draußen nicht nur eingebildet habe. Rot an Männern ist schwul, sagen manche Leute. Rot an Männern ist emanzipiert, sagen andere; und da die Emanzipation des Mannes sich heute als vollkommen neues, aber in Angriff zu nehmendes, Problem formuliert, spüre ich auch den Kulturrevoluzzer in mir.
Dreißigminütiges öffentliches Schaulaufen vor einem Warenhausspiegel lassen einen dann doch in zunehmend peinliche Gefühlswelten rutschen und auf eine Entscheidung drängen. Derevolutioniert gebe ich mich geschlagen und entscheide mich gewohnt konservativ für blau.
An der Kasse stehend, noch nicht ganz versöhnt mit meinem Kompromiss, öffne ich per Reißverschluss eine der Innentaschen und blicke auf ein Etikette, dass mich mir selbst vorführt, da steht: Wendejacke.

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