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Die reale Welt


Juliette war nicht meine erste Freundin. Aber sie war die erste, für die ich ernste Gefühle zugelassen hatte. Eigentlich waren wir unterwegs ins Kino, die Samstag-Abend-Spätvorstellung. Doch auf dem Weg dahin sagte Juliette plötzlich „Halt mal bitte an. Wir müssen reden!“. Ich suchte einen Parkplatz und wir gingen in die nächstbeste Kneipe.
„Wir müssen reden!“ – Wie ich diesen Satz hasse.
Und dennoch redeten wir. Oder besser – Juliette redete. Ich konnte die ganze Zeit kaum etwas sagen. Sie sprach von zwei Gesichtern, Liebe, verletzten Gefühlen, Unberechenbarem, und von schönen Zeiten. So ganz genau kann ich mich nicht erinnern. Doch ihre letzten Worte verhallen immer noch in meinem Kopf:
„Ich kann das nicht. Ich kann das nicht länger aushalten. Und deshalb ist es besser, wenn wir uns trennen“. Ihr Abgang war perfekt. Sie hatte beim Gang auf die Toilette Zehn Minuten zuvor ein Taxi gerufen. „Es tut mir leid, aber ich will dich nicht wieder sehen.“ Sie legte einen Zehn-Euro-Schein für ihre Getränke auf den Tisch, stieg in das Taxi und Juliette war einfach weg.
Die Explosion in meinem Kopf schien endlos zu dauern. Nach einiger Zeit bestellte ich mir einen doppelten Whisky. Ganz langsam begannen die Menschen um mich herum Formen und Konturen anzunehmen. Ein Blick auf die Uhr brachte mich in die normale Dimension zurück –zwei Uhr morgens.
Gegen Drei Uhr bemerkte ich, dass ich beobachtet wurde. Es war ein mitleidiger, aber auch ein liebevoller Blick. Kurz darauf setzte er sich zu mir und sagte mir einen Vers auf bevor er wieder ging.
„du spürst eine Hand, sie hält dich unsichtbar
auf dich achtet ein Auge, es ist immer da
du fühlst Trost im Schmerz, er ist sonderbar
und denkst neue Gedanken, rein und klar
eine Liebe liebt dich, sie ist wunderbar
und dein Herz begreift: Gott ist ganz nah“
Zuerst war ich wütend, was sich dieser Kerl einbildet; doch komischerweise gaben mir seine Worte wirklichen Trost.
Nun war ich es, der ihn beobachtete. Er ging von Tisch zu Tisch und unterhielt sich kurz mit jedem, bevor er sich wieder an den Tresen setzte und dort ein weiteres Bier bestellte. Die nächste Stunde war eher wortkarg. Nur gelegentlich schaute der Mann, den der Barkeeper „Max“ nannte zu mir herüber. Und dann kam SIE herein – eine orientalische Schönheit. Sie bestellte kurz und setzte sich dann mit Max an einen Tisch in der Ecke. Sie unterhielten sich lebhaft. Es umgab sie eine Atmosphäre der Unantastbarkeit. Niemand störte sie oder konnte gar verstehen, worüber sie sich unterhielten.
Völlig fasziniert von dieser Aura bemerkte ich gar nicht wie die Zeit verging. Kurz nach 6 konnte ich meinen letzten Drink bestellen und musste bezahlen. An meinem Auto angekommen schaltete sich mein Verstand ein und ich entschied mich, noch eine Weile spazieren zu gehen, um wenigstens nicht volltrunken nach Hause zu fahren. Nun da ich allein mit mir war, brach in mir alles zusammen.
Nach einigem Herumirren stand ich plötzlich vor einer Kirche. Ich ging hinein und setzte mich in eine der mittleren Reihen. Im Nebenzimmer hörte ich einen Chor proben, wahrscheinlich war deshalb die Kirche so früh schon offen. Der Kirchenraum beruhigte mich ein wenig. Ich nickte ein und schreckte erst wieder hoch, als die Orgel das Präludium spielte. Die Kirche war halb gefüllt. Die Liturgie war angenehm. Dann kam der Pfarrer und begann seine Predigt. Normalerweise bin ich daran eher desinteressiert, aber diesmal hörte ich mit der Aufmerksamkeit eines Kino-Besuchers in einem Horrorfilm zu. Er predigte über das Alte Testament und betonte immer wieder die Grausamkeit des Allmächtigen. Ich erwartete die ganze Zeit vom Blitz getroffen zu werden. Und tatsächlich hörte ich einen lauten Knall. Erschrocken, aber voller Neugier, schaute ich zum Mittelgang und erblickte Max. „Was macht der denn hier?“. Max ging ein paar Schritte vorwärts, legte das Gewehr erneut an und schoss. Das große Kruzifix stürzte auf den Altartisch. In diesem Moment überkam mich die Panik und ich fing an zu rennen. Hinter mir hörte ich den dritten Schuss. Aus den Augenwinkeln sah ich den Pfarrer zu Boden sinken. Ich stolperte die Stufen vor der Kirche hinunter und landete bäuchlings auf dem Gehweg.
„Ist alles in Ordnung?“
Ich brachte kein Wort heraus.
„Hey! Was ist?“
Ich drehte mich um und erkannte die orientalische Schönheit, welche ich noch vor wenigen Stunden mit Max zusammen gesehen hatte.
„M…Max!?“ stammelte ich.
„Max ist nach Hause gegangen“ bekam ich als Antwort. Verdutzt schaute ich mich um – bei einem solchen Amok-Lauf müssten doch mehrere Leute aus der Kirche gerannt kommen? Doch wir waren allein. Aus der Kirche erklang sogar ein Kirchenlied – was auf einen vollkommen normalen Gottesdienstablauf hinwies.
„Also nochmal von vorn: Ich bin Yasemine. Und ich weiß, dass in Kirchen oft Scheiße erzählt wird, aber so wie du ist bisher noch keiner geflohen. Ist also alles in Ordnung mit dir?“
„Ähm. … Ja, ich glaube schon. Ich bin wahrscheinlich nur eingenickt und hatte einen schlimmen Traum. Ich bin übrigens Bo.“
Yasemine reichte mir ein Tempo und ich wischte mir ein wenig Blut von der Unterlippe.
„Ein Alptraum in dieser Kirche.“ – Yasemine kicherte vor sich hin.
Ich stand auf, verabschiedete mich und wollte einfach nur nach Hause.
„Vielleicht sehen wir uns mal, Bo. … Ach – wovon hattest du eigentlich geträumt?“
„Nichts weiter, nur dass Max den Pfaffen erschossen hat.“
Ihr lächelndes Gesicht verwandelte sich in ein Stirnrunzeln und ich ging.

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