Ernst Föhlich > Mehr Schein als Sein

Mehr Schein als Sein



Ich benötige ein neues Portemonnaie. Mein altes ist noch nicht mal alt, war beim damaligen Kauf wie üblich mit „Echtes Leder“ angepriesen worden. Doch was nützt das schönste Leder, wenn die Nähte nichts taugen. Nachdem ich, zutiefst von Verlustangst erschrocken, minutenlang meine EC- Karte gesucht hatte, um sie dann genervt, aber immerhin sehr erleichtert, irgendwo im Innenfutter meiner alten Geldbörse zu finden, war Schluss. Ein trauriger Schluss. Ich hänge zwar nicht sonderlich an materiellen Dingen, sofern sie sich nicht mit ideellen Werten verbinden, wie Bücher, entwickle aber zu Utensilien des täglichen Gebrauchs, die mich über längere Zeit begleiten eine gewisse Anhänglichkeit, gewöhne mich an sie, und empfinde im zunehmend vertrauten Umgang mit ihnen ein nahezu kindliches, freundschaftliches Treueverhältnis. So, wie zu dem Kugelschreiber in meiner Hand, welcher, vom materiellen Wert her kaum Erwähnung verdient, mich trotzdem schon das fünfzehnte Jahr begleitet und jedes Mal leichte Ängste schürte, wenn ich ihn verlegt hatte.
Lederwarengeschäft, Einzelhandel. Der Inhaber ist ein graumelierter Herr um die Mitte fünfzig. Er grüßt freundlich, doch sehr bestimmt. In meinem Kopf höre ich ihn sagen: „wer hier herein kommt, kauft!“. „Sie wünschen bitte?“ höre ich seine Stimme, diesmal real, akustisch von außerhalb meines Kopfes, etwas freundlicher, aber umso bestimmter. „Ich benötige ein neues Portemonnaie“. Eine Handbewegung seinerseits verweist mich auf die oberste Auslage. Ich liebe Schnäppchen, ganz ehrlich, aber ich hasse Stillosigkeit. Ein kritischer Blick. Ich gebe zu, ich sehe nicht wohlhabend aus, schon gar nicht an regnerisch- windigen Tagen, an denen die Kleidung zugunsten von Trockenheit und Wärme nicht nach Selbstdarstellungskriterien ausgewählt wird. Aber was soll`s. Ich will nicht wohlhabend aussehen, ich bin es ja auch nicht. Ich brauche ein neues Portemonnaie und da ich einen persönlichen Stil entwickelt habe, sollte es sich von den Angeboten der Restpostenmärkte abheben.
„Hier hätten wir noch ein paar andere, etwas bessere Stücke“ sagt er in einem Tonfall, zwischen Hoffnung und Skepsis schwankend, indem er mich noch einmal, ich glaube fast aus Gewohnheit, mit einem flüchtigen Blick von Kopf bis Fuß mustert. Ich bemerke, dass der Anblick der zweiten Auslage mein ästhetisches Empfinden weckt. Doch, so taucht in meinem Bewusstsein die Frage auf, was heißt `bessere Stücke`? Einfach nur teurer, weil etwas schöner, weil schöneres Leder, schönere Maserung, schöneres Outfit? Und was ist mit den Nähten? Ich schaue um einiges länger als bei der ersten Auslage.
Jetzt braucht der Mann Gewissheit. Er holt, wie ich empfinde, ein wenig überheblich, noch eine dritte Auslage hervor. Nun weiß ich, mein Hunger nach Schönheit kann hier gestillt werden, so ich sie mir leisten kann. Aber unabhängig vom Preis ist da noch die Frage nach den Nähten. Würde ich den Laden lebend verlassen können, wenn ich nichts kaufe? ´Es ist nichts dabei` hieße bei diesem Angebot ´es ist mir zu teuer`. Das ist mir die dritte Auslage dann auch. Mein Blick geht zurück zur zweiten. Der Verkäufer macht einen sich leicht von mir distanzierenden Schritt zurück, wie ich in meinen Augenwinkeln bemerke.
Schwarz, schlicht, schön. Lag das vorhin auch schon da? Ich nehme es in die Hand. Gutes Gefühl. Ich schlage es auf. Schön. Nicht überladen, nur wenige Kartenfächer, Personalausweisfach, schlank, passt in die Gesäßtasche (eine, für mich, unaufgebbare Voraussetzung für ein Portemonnaie). Und die Nähte? Wer weiß das schon, sehen aber gut aus. Da bliebe noch der Preis. Selbstverständlich kein Schnäppchen,
aber keineswegs schmerzhaft. „Das nehme ich“. Ein kurzes, aber wie ich meine, ehrliches Lächeln huscht über sein Gesicht. Immerhin, zweite Auslage, mittlere Preisklasse.
Ich hole mein noch nicht altes, zerfleddertes Portemonnaie zu seiner letzten Dienstleistung hervor. Der auf heimliche Beobachtung trainierte Verkäuferblick notiert eine Ansammlung von Scheinen, die eine Summe erahnen lässt, die den alltäglichen Konsum doch um einiges übersteigt. Seine Augen verfinstern sich, sein Mundwinkel verzieht sich nach unten. „Gut gepolstert“ klingt es nahezu vorwurfsvoll und ergänzt sich in meinem Kopf ´das hätte wohl auch für die dritte Auslage gelangt`. Ich empfinde ein Gemisch aus Verärgerung und unfreiwilliger Überlegenheit. Soll ich ihm jetzt erklären, dass ich in Begriff bin eine Reise anzutreten, eigentlich gar nicht viel Geld habe, sondern nur deshalb erheblich mehr als sonst abheben musste? „Mehr Schein als Sein“ rutscht es mir heraus. Mein Gegenüber kann mit dieser Erwiderung nichts anfangen – oder will nicht. Er wirkt bitter, gibt mir mit angedeuteter Höflichkeit mein Wechselgeld wider. Mir fällt in diesem Moment auf, dass ich die ganze Zeit über der einzige Kunde im Geschäft war. Der Umsatz muss so schlecht sein, dass dieser alternde Herr sich nicht einmal seine eigene Ware leisten könnte, wäre er Kunde, jedenfalls keines von den ´anderen, etwas besseren Stücken`. Für einen Geschäftsmann muss das demütigend sein. Ich empfinde Mitleid, bedanke und verabschiede mich herzlicher, als der Situation angemessen wäre. Er erwidert nur mit einem kurzen Kopfnicken. Mit dem Gefühl eines Blickes von Neid und Missgunst auf dem Rücken verlasse ich das Geschäft.
´Mehr Schein als Sein` denke ich noch einmal, als ich freudig mein neues Portemonnaie ausstatte. Doppelsinnig, ja philosophisch, denke ich und bin an Erich Fromm´s ´Haben oder Sein` erinnert. ´Benötigt ein Philosoph wirklich ein Portemonnaie?`, frage ich mich. Heutzutage auf jeden Fall; und zwar eines mit Stil.

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