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Wurzeln



In Polen gewesen. Genauer gesagt, dort, was bis zum Ende des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte Hinterpommern hieß. Jeder Mensch hat ja seine familiären Wurzeln und es sei jedem Menschen auf´s seelsorgerlichste empfohlen, diese Wurzeln einmal aufzusuchen.
Jeder von uns trägt Geschichte in sich. Seine ganz persönliche aus der Zeit bewussten und unbewussten Erlebens und weit, sehr weit darüber hinaus. Ein Europäer ist ein Abendländer und wird, sobald er tiefere Schichten seines Gemüts berührt, zumindest etwas von seiner tiefen Verwurzelung in der abendländischen Kulturgeschichte spüren.
In Polen ging es um Familiengeschichte. Ein seltsames, schwer beschreibbares und wohl kaum erklärbares Empfinden beim Durchfahren weiter wunderschöner Landschaften, die meine unmittelbar vorhergehende Generation noch Heimat nannte. Städte, die einmal Neustettin und Baldenburg hießen und heute aufgrund brauner kriegspolitischer Egomanie zu Recht mit polnischen Namen versehen sind, welche auszusprechen mein Artikulationsvermögen übersteigt. Dort
und an vielen anderen Orten wurden einst viele Menschen entwurzelt. Über Nacht, mit Gewalt, als Konsequenz einer untergegangenen despotischen Tyrannenherrschaft. So durchfahre ich Landschaften, deren Schönheit nichts von den damaligen schrecklichen Ereignissen mehr erahnen lässt. Über einen Bach, der vor sechzig Jahren noch ein reißender Fluss war, in dessen Strom sich Mütter mit ihren Kindern aus Angst vor den Russen warfen, um darin zu ertrinken.
Ich stehe im Geburtshaus meines Vaters, wo heute eine alles andere als wohlhabende Familie mit drei Kindern und einem entsetzlich feindseligen Hund lebt. Die Frau ist hübsch, hat nur leider ein von Karies zerfressenes Gebiss. Ich stehe vor einer Fußbodenklappe, die zum Keller führt, in welchem damals die älteste Tochter versteckt wurde und auf welcher, auf einem Teppich darüber, mein Vater auf den Nachttopf gesetzt wurde, als russische Soldaten das Dorf nach jungen Frauen durchsuchten. Sie fanden sie nicht. Auch den alten Kachelofen gibt es noch und siehe da, er funktioniert bis heute. Ich begegne Menschen, die damals bleiben durften, die damals meinen Vater als Kind kannten, heute vergreist und zumeist zahnlos sind. Sie grüßen sehr freundlich. Ich sehe den See, an dem mein Vater leidenschaftlich Karpfen und Hechte gefischt hat, betrachte Felder, die einst meinem Großvater gehörten. Ich betrete den Weg, der früher einmal kilometerweit der tägliche Schulweg war.
Ich begegne meiner Geschichte. Ich war damals noch lange nicht geboren. Alles ist für mich neu und fremd. Doch inmitten dieser Fremdheit spüre ich Vertrautheit, Zugehörigkeit. Es ist ähnlich dem Erleben, welches noch viel unaussprechlicher ist; als ich das erste Mal bewusst gebetet hatte und Gott begann, in mein Bewusstsein zu treten. Ein mir Unbekannter und doch zugleich Wesensvertrauter. Und so, wie ER damals begann, mein Selbst in sich zu verwurzeln, so fing meine Seele an, in einem fremden Land an alte Wurzeln anzudocken, den Wurzeln meiner Geschichte.

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