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Irgendwann


Die Trennung von Juliette traf mich wie eine Atombombe und an den nuklearen Winter, die Zeit nachdem sie mich verlassen hatte, kann ich mich kaum erinnern. Ich muss lethargisch in irgendeiner Ecke gelegen haben – aber so genau weiß ich das nicht mehr. Und irgendwo, weit weg von Raum und Zeit, feierte ein anderer Bo eine Party. Je mehr sich mein Herz verkrampfte, je mehr Haut meine Fingernägel von meinem Arm kratzten, je mehr ich litt, desto größer wurde seine Party.
Die Dämonen fanden es wohl witzig, ihn mir wegen der Namensgleichheit zuzuteilen. Wobei er nicht Robert hieß. Er wurde Bo gerufen weil er ein boshafter kleiner fetter Bastard war. Boshaftigkeit war seine hervorstechendste Eigenschaft, und so nannten ihn alle „Bo“. Er sah aus wie ein fieser Buchhalter, der am liebsten seine Kundschaft auf einen fehlenden Cent aufmerksam macht. Selbst seine leicht schuppige Haut passte zu seinem Erbsenzähler-Outfit. Grauer Anzug, braunes Hemd, matt-grüne Krawatte. Nur seine gelbglühenden Katzenaugen ließen den Dämon erkennen.
Falls ich je einen Schutzengel hatte, so hatte Bo ihn schnell beiseite geschafft. Vielleicht hatte er ihn nur überredet, etwas anderes zu tun. Aber ich glaube eher, der Engel wurde mit vertrauensschaffenden Maßnahmen gefesselt und irgendwo hinabgelassen, wo er Jahre benötigte, wieder heraus zu kommen. Und so war ich „meinem“ Dämon Bo mehr oder weniger ausgesetzt. Und nun, da ich in einem wachkomaähnlichen Zustand in der Ecke lag, schaute er selbstgefällig auf mich herab. Seine Kumpel kamen und sie feierten eine Party. Sie genossen meinen Selbsthass in stilvollen Weingläsern. Sie schlemmten an meiner schmerzerfüllten Seele. Und meine Krämpfe und Anfälle bildeten eine liebliche Hintergrundmusik.
Ein wenig besonnen nippte Bo an seinem Glas mit meinem Selbsthass und erinnerte sich an eine andere Party. Die beste die er je hatte. Es war im Mittelalter, etwa Anfang des 13. Jahrhunderts. Der Junge, dem er zugeteilt war, hieß Friedrich.
Friedrich war ein lebhafter Junge mit blonden Haaren. Er liebte es, im Wald herumzurennen und Jagd auf Tiere zu machen. Und wie jedes Kind konnte er nie einen Hasen fangen. Er lag stundenlang auf der Lauer. Und tatsächlich sah er zwei Ohren von Meister Lamprecht. Doch ehe er auch nur im Entferntesten seinen Kinderbogen in die Hand bekam, war der Hase auch schon wieder verschwunden. Sein Onkel war öfter mit ihm im Wald und er lehrte ihn wie man eine Hasenfalle baut. Anfangs taten Friedrich die Tiere leid, doch schnell fand er gefallen am Jagen – besonders wenn er abends das selbst gefangene, von seiner Mutter zubereitete, Fleisch essen durfte.
Sein Vater Ruprecht hatte dem König in der Armee gedient und der Sold genügte, um der Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie waren in ihrem Dorf angesehen. Durch Ruprechts Stellung in der Leibgarde hatten sie manche Privilegien, so dass Friedrich im nahe gelegenen Kloster Lesen und Schreiben lernte. Seine ältere Schwester Martha beneidete ihn sehr, da sie als Mädchen nicht in das Kloster durfte. Doch Friedrich und Martha mochten sich und so brachte er ihr das Lesen bei. Manchmal schmuggelte er kleinere Schriften aus dem Kloster, damit sie etwas lesen konnte. Und sie lernte schnell, sehr schnell. Friedrich war der erstgeborene Sohn und dementsprechend stolz auf seinen Stand in der Familie. Sein Stolz verhinderte, dass er die Klugheit seiner älteren Schwester bemerkte. Nur in seinem Unterbewusstsein blieb nach endlosen Diskussionen über Gott, Religion und Politik immer ein Gefühl der Niederlage, obwohl sie ihm am Ende, wohl eher aus Höflichkeit, immer Recht gab.
Durch das Jagen und Ruprecht als Vorbild ging Friedrich freiwillig und sehr jung zur Armee. Er war ein guter Soldat, der die politischen Wirrungen und Hintergründe für manchen Kampf einfach nicht verstand. Oft hätte er gern seine Schwester Martha befragt, aber die war zu Hause, und er weit weg auf dem Schlachtfeld. Sie hatte immer eine Meinung zu politischen Geschehnissen und sie konnte ihre Meinung auch begründen.
Schon nach vier Monaten wurde Friedrich befördert. Er hatte eine Handvoll Männer zu kommandieren, die er vorher noch nie gesehen hatte. Sein erster Auftrag war ein besetztes Dorf zu befreien. Die Aktion war innerhalb einer Stunde erledigt. Doch seine Männer waren im Dorf verstreut. Friedrich ging auf die Suche und erwischte vier seiner zwanzig Männer auf frischer Tat, wie sie eine junge Frau des Dorfes vergewaltigten. Der Vater des Mädchens lag mit zertrümmertem Schädel neben der Eingangstür. Friedrich strafte sie lediglich mit einem bösen Blick. Sein militärischer Ehrgeiz sagte ihm, dass solche Burschen im Kampf besser waren als brave Ehemänner. Und tatsächlich entwickelte sich Friedrichs Truppe langsam zur Eliteeinheit. Ein Nachteil seiner Karriere war, dass er ununterbrochen an der Front war. Der Kontakt zu seiner Familie beschränkte sich auf zwei kurze Briefe im Jahr, die Martha ihm schrieb.
Friedrich kam mit dem politischen Geschehen nicht hinterher. Er reduzierte seine Gedanken auf seine Soldaten-Existenz und nahm Befehle an, ohne sie weiter in Frage zu stellen. Im Laufe der Jahre vergaß er die Diskussionen, die er mit Martha geführt hatte. Aber er wusste, dass er seine Familie, insbesondere Martha, sehr liebte. Sein erster Heimaturlaub nach acht Jahren war daher eine besondere Freude für ihn.
Kommandant Seibold war für ihn so etwas wie ein Freund geworden. Seibold kam aus dem Norden, Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Sein Vater fuhr zur See und nach einem Sturm kam er nicht wieder. Als Kind war er daher das, was man heute „schlecht erzogen“ nennen würde; als Mann war er ein Raufbold und Draufgänger. Aber genau diese Eigenschaften machten ihn auch zu einem der besten Kameraden den man sich in einer Armee wünschen kann. Er war da, wenn es brenzlig wurde, er scheute keine Schlacht und im Kampf konnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen. Er trieb auch seinen Schabernack mit den Kameraden, aber im Kampf war Verlass auf ihn. Da Seibold keine Familie mehr hatte, bot Friedrich an, ihn bei ihrem Heimaturlaub einfach mitzunehmen. Dankbar nahm er an und sie zogen zu zweit durch die Lande in Richtung Friedrichs Zuhause.
Zwei Tagesmärsche vom Ziel entfernt hörten sie von einer kommenden Ketzerverbrennung. Sie sollte schon am Nachmittag des nächsten Tages stattfinden. Seibold wollte das unbedingt sehen. Ihr letzter Kampf lag fast acht Monate zurück – er vermisste es Blut zu sehen. Er war ein Gewalt-Junkie auf Entzug. Friedrich war es einerlei, daher beschleunigten sie ihr Tempo, um die zwei Tagesmärsche in etwas kürzerer Zeit zu bewältigen. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr wurde darüber geredet. Sie hörten, dass es sich um eine Ketzerin handelte. Andere sprachen von einer Hexe. Wieder andere erzählten haargenau, wie die Angeklagte Papst und Kirche beschimpft hatte und waren der Meinung, eine gotteslästerlichere Schlampe habe es nie vorher gegeben. Ganz wenige waren entsetzt, wie ein so liebes Mädchen in solche Schwierigkeiten geraten konnte.
Am Tag der Verbrennung mussten sie nicht mehr allein laufen. Eine ständig wachsende Gruppe von Menschen lief mit ihnen mit, um das Spektakel nicht zu verpassen. Die Gespräche gingen ausschließlich um die Ketzerin in den verschiedensten Variationen. Aber in einem waren sich alle einig: sie wollten die Verbrennung sehen.
Sie kamen pünktlich auf dem Marktplatz an. Der Scheiterhaufen war bereit. Die Angeklagte stand mit einer Kapuze bedeckt auf einem Podest. Seibold schob Friedrich vor bis zur ersten Reihe. Er wollte ganz vorn stehen. Den Mann, der die Anklage verlas, hatte Friedrich noch nie gesehen. Aber die anwesenden Priester kannte er alle aus seiner Kindheit. Im Hintergrund sah er ein paar Mönche aus dem Kloster. Sie sahen irgendwie hilflos und verstört aus. Bruder Jonas, der ihm das Lesen beigebracht hatte, wischte sich mit seiner Kutte Tränen aus dem Gesicht. Die Anklage sprach von Lügen über die Kirche, aber auch von Verrat am Staat. Nach Zehn Minuten Angklageverlesung schubste der Mann die Angeklagte nach vorn und zog ihr gleichzeitig den Umhang mit der Kapuze vom Leib. Unter den rund 500 anwesenden Bürgern waren nur sechs von Seibolds Schlag. Aber diese sechs genügten, um die ganze Menge „verbrennt sie!“ grölen zu lassen. Es war kein Kampf, aber Seibold war in seinem Element.
Friedrich hingegen brachte kein Wort heraus. Er starrte seine Schwester Martha an, die als Angeklagte auf dem Podest stand. Wie war das möglich? Warum war ausgerechnet sie die Ketzerin? Seibold schlug ihm auf die Schulter und Friedrich deutete nur auf Martha und sagte „meine Schwester“. Es dauerte nur einen kurzen Moment und Seibold änderte die Strategie. Er war trainiert darauf sein Ziel zu erreichen und hier und jetzt wollte er die Hexe brennen sehen – egal wie. Ein schneller Rundum-Blick um die Lage zu sondieren. Dann riss er einem nahe stehenden Soldaten die brennende Fackel aus der Hand. Zu Friedrich gerichtet redete er in beschwörendem Ton auf ihn ein.
„Wenn das wirklich deine Schwester ist, hast du die Ehre und Pflicht dem Staat zu dienen. Aktiv ihre Verbrechen zu vergelten. Du hast die Anklage gehört – sie ist ein Verräter in den eigenen Reihen. Du weißt was wir mit Verrätern und Deserteuren machen, oder? Tu deine Pflicht Friedrich – sie muss brennen!“
Seine Pflicht tun – Friedrich hatte in den letzten Jahren gelernt seine Pflicht zu tun. Und sie waren mit dieser Strategie siegreich gewesen. Die Menge grölte „verbrennt sie“. Seibold brüllte ihn an „verbrennt sie!“. Friedrich drehte sich um und brüllte mit all den anderen mit: „Verbrennt sie!“
Martha war bereits an den Pfahl des Scheiterhaufens gekettet. Sie hatte keine Kraft mehr sich zu wehren. Sie wollte, dass es schnell vorbei ging. Jeder auf dem Platz wollte nun, dass es endlich begann. Alle spürten, dass es nun passieren würde. Seibold schubste Friedrich nach vorn und rief „Tu deine Pflicht“. Ohne weiter nachzudenken warf Friedrich die brennende Fackel in das vorbereitete Reisig, welches sofort die Flammen aufnahm und weitergab. Dass sechs weitere Soldaten ihre brennenden Fackeln ebenfalls warfen bekam er dabei nicht mit. Er schaute Martha in die Augen, die seinen Blick erwiderten. Friedrich erstarrte als er die Liebe in ihrem Blick erkannte. Sie erkannte ihn! Er konnte nichts hören, aber er las die Worte von ihren Lippen: „ich vergebe Dir!“. Seine Knie wurden weich, gaben nach und er sank zu Boden. Er sah wie die Hitze die Haut von den Füssen zog und sah wie sich Martha zappelnd und schreiend krümmte.
Als Seibold ihm ein weiteres Mal auf die Schulter klopfte, drehte er sich voller Wut um. Seibold erkannte, dass es Zeit war zu gehen. Kerle wie Seibold erkennen immer, wann es Zeit ist zu gehen. Seine Aufgabe war erledigt, der Blutrausch für eine Weile gestillt - sein Heimaturlaub war hiermit beendet. Er hob die Hand zum Abschied und verschwand in der Menge. Friedrich blieb auf den Knien und beobachtete weiter die Flammen. Für ihn waren die Qualen die Martha erleiden musste unerträglich. Er bekam nicht mit, dass Martha schon ohnmächtig geworden war, als die Flammen ihre Knöchel erreichten. Und er bekam nicht mit, dass sie am Qualm des brennenden Reisigs bereits erstickt war, als ihre Oberschenkel vor Hitze platzen. Er bekam nicht mit, dass ihr Sterben schnell ging. Er starrte noch in den Scheiterhaufen, als sich die Menge bereits auflöste und der größte Teil den Heimweg antrat.
Jetzt war für Bo die Zeit gekommen. Der Dämon schlich sich von hinten an Friedrich heran. Er durfte nicht gesehen werden – noch nicht. Neben den Menschen waren etliche Dämonen und Engel am Platz. Die Dämonen feierten selbstgefällig. Die Engel kümmerten sich rührend um Martha und trauernde Menschen. Bruder Jonas hatte sogar zwei Engel um sich. Aber Bo kümmerte das alles nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keinen Anzug und mit seinem Fell, welches eine seiner Schultern frei lies, sah er aus wie ein zurückgebildeter Neandertaler. Groteskerweise machte dieses Urzeitaussehen ihn fast unsichtbar. Er legte die Hände auf Friedrichs Schultern und setzte flüsternd nur einen Gedanken in Friedrichs Kopf fest: „Du bist schuld“.
Zwei Engel rissen Bo zu Boden und hielten ihn fest, während drei andere Engel auf Friedrich einredeten.
„Jesus vergibt!“
„Christus ist für Dich am Kreuz gestorben!“
„Gott liebt Dich!“
Lächelnd ließ sich Bo von den Engeln am Boden halten. Der Samen war gesät. Friedrich hielt sich mit beiden Händen die Schläfen. Die Stimmen in seinem Kopf machten ihn fast wahnsinnig. Gedanken breiteten sich aus. Er war ein gottesfürchtiger Mann, aber mit Jesus konnte er noch nie viel anfangen. Daher schob er die Gedanken von Kreuz und Vergebung beiseite.
‚Hätte ich ihr nicht das Lesen beigebracht, wäre sie nicht zur Ketzerin geworden. Ich habe die Fackel geworfen und sie verbrannt. Mit mir hatte sie Diskussionen über Religion und Politik – ich hätte sie vom Richtigen überzeugen müssen! Ich habe versagt. Ich habe Schuld!‘
Von Vergebung hatte er nur gehört. Aber dass er Martha das Lesen beigebracht hatte, dass er Diskussionen mit ihr hatte, dass er die Fackel geworfen hatte, das alles waren Tatsachen. Diese Erkenntnis bereitete den Weg vom Gedanken im Kopf zum Schuldgefühl im Herzen. Wie die Pest einen Körper schwarz werden lässt, verdarben die Gedanken sein Herz. Es schnürte sich zu und wurde zu einer eisenschweren Last, die Friedrich nie wieder aufrecht gehen ließ.
Als er über den Platz schaute, sah er seine weinenden Eltern. Dieser Anblick gab ihm den Rest. Er stand auf und wankte fort. Langsam schlich er in Richtung seiner Kompanie. Er verspürte keinen Lebenswillen mehr. Nachts plagten ihn Albträume. Bo hatte seinen Spaß daran ihm die Verbrennung seiner Schwester in zwanzig verschiedenen Versionen zu zeigen. Und in jeder Version sagte sie nicht „ich vergebe dir“, sondern „du bist schuld“. Friedrich war gebrochen. Er wollte nur noch einsam leiden. Er wollte in die Hölle. Kein Engel hatte eine Chance ihm etwas anderes zu sagen. Friedrich stürzte sich eines Tages ohne Rüstung in den Kampf und wurde vom Gegner niedergewalzt.
„Bo?“
Ich bin Bo. Bo machte eine riesige Party. Er lud alle ein, die er irgendwie kannte und sie vergnügten sich mit Friedrichs Elend, Selbsthass und seiner letztendlichen Verzweiflung.
„BO!!!“
Bin ich Bo? Die Party war so ausgelassen, dass er noch Wochen danach einen Kater hatte.
„Robert Derliner!! Hörst du mich?“
Das war ich! Bo lachte über mich! Ich riss die Augen auf und schrie „Ich will das nicht!“. Mein Mitbewohner wich etwas zurück.
„Hey Bo. Ist alles in Ordnung mit Dir“
Ich stotterte etwas.
j..j…ja.“
Ich war in Ordnung. Zumindest atmete ich. Was war das denn für ein Trip? Aber ich wollte nicht, dass der Dämon Bo meinetwegen weiter feiern konnte! Egal ob das nur ein Traum war oder ob ich die Grenze zwischen unserer und der unsichtbaren Welt überschritten hatte: Ich wollte nicht wie Friedrich enden! Plötzlich musste ich an „himmelblau“ denken und mir ging es etwas besser.

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