Eine ganz gewöhnliche U-Bahnfahrt
Ich renne zur U- Bahn, schlängele mich an den Menschen vor mir vorbei und die Treppe hinunter zum Bahnsteig. Auf der Leuchtanzeige steht: 4 Minuten. Scheiße, gerade weg. Mein Bus hatte genau eine Minute Verspätung, und das Alles nur wegen dieser Frau mit Kinderwagen, die beim Einsteigen nicht aus der Hüfte kam. Warten, vier entsetzliche Minuten. Ich fühle mich, wie ein Mensch im Mittelalter, als nur einmal am Tag eine Kutsche fuhr. Nun gut, jede Ewigkeit geht einmal vorüber; die Bahn fährt ein. Leute, die eben noch hinter mir standen, stehen plötzlich vor mir, steigen ein und besetzen die besten verbliebenen Sitzplätze. Für mich bleibt ein Platz in der Mitte auf einer Seitenbank; zwischen einer fettleibigen alternden Frau, deren Haartracht nach Perücke aussieht und einem muffig riechenden Rentner, der meinetwegen miss-mutig seinen Stoffbeutel von rechts neben sich auf seinen Schoß legt. Ich sitze und krame in meinem Rucksack nach meinem Taschenbuch. Zwischen dem Sweatshirt für einen möglichen Kälteeinbruch, den Papiertaschentüchern und irgendwelchen Dingen, von denen ich teilweise nicht weiß, was sie genau sind und was sie darin zu suchen haben, finde ich es. Das Lesezeichen ist herausgerutscht. Auf welcher Seite war ich noch mal? Entsetzliche Geräusche ertönen in meinen Ohren. Auf der gegenüberliegenden Bank sitzen neben einem jungen Kerl, der wie ein Germanistikstudent aussieht, zwei weibliche Teenager, die sich gegenseitig ihre Handymelodien vorspielen. Manche davon meine ich schon einmal im Radio gehört zu haben, doch irgendwie klingen sie noch grässlicher als in meiner Erinnerung. Mir ist es inzwischen egal, auf welcher Seite ich weiterlesen müsste. Ich packe das Buch wieder weg. Nächster Haltebahnhof. Mitten hinein in die Handyklingeltöne steigt eine lange, spindeldürre Frau ein, die in das Konzert noch ihren, wie man meinen könnte, Sprechgesang hineinfügt, um ihre Obdachlosenzeitung zu verkaufen. Ihre Stimme hat so einen fordernden, anklagenden Ton, als wären die Anwesenden im Waggon- und vor allem ich- verantwortlich für ihr Elend. Ich bin versucht, erneut nach meinem Taschenbuch zu kramen; manchmal benötigt man ein künstliches Alibi. Keiner kauft eine Zeitung, auch gibt niemand eine Spende; zurecht, wie ich denke. Die Bahn hält, die Teenager und die Zeitungsverkäuferin steigen aus. Ich bin zufrieden und genieße die, wie ich empfinde, göttliche Stille. Die akustische Ruhe ist von kurzer Dauer. Zwei Musiker steigen ein. Eine Violine und eine Gitarre. Sie spielen „Let it be“. Ich mag den Song, denke aber: ´ach ja, lasst es sein, eure Performance ist daneben`. Diesmal sind Leute da, die etwas Kleingeld geben; ich nicht.
Überhaupt bin ich mittlerweile genervt, so dass ich dasitze und über eine staatliche Zensur für U- Bahn berechtigte Menschen nachdenke. Ich bin begeistert, je länger ich darüber nachsinne. Ein U- Bahnnetz, ganz für mich allein. Wie die Stadt das finanziert ist nicht mein Problem. Doch dann steigt sie ein. Brünett, zirka ein Meter sechzig groß, Stiefeletten, Bluejeans, schlichte schwarze Lederjacke und ein pink-farbenes Shirt darunter. Ich schätze sie auf Ende zwanzig, verdränge dies sofort, weil man in solchen Dingen sowieso daneben liegt. Keine Zeitungsverkäufer, keine nervigen Teenies, niemand mit Instrument in Sicht. Der Rentner steigt aus und ich rutsche rechts rüber, kuschele mich an die Begrenzungswand an und sitze ihr direkt gegenüber. Und sie? Sie prüft ihre Fingernägel, fährt sich einmal ordnend durchs Haar, greift in ihre Handtasche, in welche für mein Begreifen gerade einmal ein Lippenstift und ein Portemonnaie passen würden, und holt ein Taschenbuch heraus. Währenddessen hat sie mich nicht eines einzigen Blickes gewürdigt. Verletzt in meiner Eitelkeit nehme ich den Zensurgedanken wieder auf. Darf ich denn nicht einmal, ungestört von nervigen Zeit-genossen, meine U- Bahnlinie benutzen?
Ich muss aussteigen, um meinen Anschlussbus zu nehmen. Ich stehe an der Haltestelle, rauche eine Zigarette. Irgendwann, ich überlege gerade, ob ich mir eine zweite anstecke, kommt der Bus. Ich schaue auf die Uhr: siebeneinhalb Minuten Verspätung. Mürrisch drängeln sich, wie immer, Leute vor und ich denke: Schade, diese Stadt könnte so nett sein, wenn es nicht so viele Neurotiker gäbe.