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Irre


In den folgenden Tagen stürzte ich nicht wieder derart tief ab, aber meine Gedanken arbeiteten unentwegt, so dass mich sogar das Schlafen ermüdete. Was mich besonders wunderte war die Tatsache, dass Juliette nicht die tragende Rolle in meinen Gedanken spielte. Schließlich war sie doch der Auslöser meines Gefühlschaos‘. Doch in meinen Träumen war von ihr nichts zu sehen. Ich hatte einmal gehört, dass Träume etwas zu bedeuten haben. Träume sind Nachrichten aus dem Unterbewusstsein. Oder sogar Nachrichten aus anderen Dimensionen? Daher durchlebte ich alle Träume noch einmal. Ein Dämon und ein erschossener Pfaffe. Wieso diese Bezüge? Ich glaubte an Gott. Aber ich hätte mich nicht als „frommen Christen“ bezeichnet. Weshalb dann überall Anspielungen auf Gott? Selbst der nur Millisekunden anhaltende Gedankenblitz, in dem ich an Himmelblau dachte, zeigte zielgenau zu Gott. War ich irre geworden?
Juliette war nicht in den Träumen! Dafür aber jede Menge irrationale Personen. Engel, Dämonen, vielleicht nie existierende Leute aus einem lange vergessenen Mittelalter. Mir kam es vor, als gäbe es nur eine Person, die in meinen Träumen sowie im realen (oder soll ich lieber normalen sagen?) Leben eine kleine Rolle spielte. Und das war Max. Das Gefühl, dass ich mit Max reden musste wurde immer stärker.
Ich ging zur der Kneipe, wo Juliette mich verlassen hatte. Max war nicht da. Es war auch ein anderer Barkeeper anwesend, der die Bekanntschaft mit Max verneinte. Niemand schien Max zu kennen. Der ganze Raum machte plötzlich einen völlig anderen Eindruck auf mich. Lag es am Tageslicht? Ich wartete den Abend ab und trank langsam einige Kaffees, nahm einen kleinen Imbiss. Doch Max war nicht zu sehen. Ich bekam Angst, dass das Zusammentreffen mit Max ein Traum war. War dann auch Yasemine ein Traum? War die Schießerei in der Kirche ein Traum in einem Traum? Die Realität verschwamm förmlich vor meinen Augen. Die Atmosphäre war befremdlich. Nein – sie war nicht befremdlich, sie wurde befremdlich. Obwohl das Tageslicht schon Stunden vergangen war, wurde es mit einem Mal noch dunkler. Der Barkeeper schaltete die letzten Lampen an, doch der Eindruck einer alles durchdringenden Dunkelheit verschwand nicht.
An meinen Tisch setzte sich ein schüchterner Mann mit gesenktem Kopf. Sein Outfit passte nicht wirklich zusammen. Ein erdfarbenes Hemd zu einem grauen Anzug. Die Krawatte war nicht auffällig. Doch das Grün machte das Farbenspiel für die Augen zu einem quälenden Erlebnis. Er schaute tief in sein noch gefülltes Schnapsglas. Der gesenkte Kopf lies durch die dünnen, fettigen Haare eine schuppige Haut erblicken. War das hier real? Oder ist das ein weiterer Traum?
Der Mann trank seinen Schnaps in einem Zug und schaute mich danach mit seinen gelben Katzenaugen direkt an. Er war wütend. Seine Augen glühten förmlich vor Zorn. Als er den Mund aufmachte und die spitzen Zähne damit freilegte, merkte ich, wie der Dämon Bo seine Wut zurückhielt. In einem hypnotisierenden Ton sagte er
„Du gehörst mir! Ich habe dich gefunden. Ich habe mich um dich gekümmert.“
Er schloss die Augen und verdrehte den Kopf, bis ein lautes Knacken zu hören war. Er strich sich mit einer Hand kurz über den Nacken und öffnete dann langsam wieder die Augen.
„Vergiss das nie! Du gehörst mir.“
Bo stand auf und ging zum Ausgang. Bevor er die Kneipe verließ drehte er sich noch einmal um und schaute mich mit einem „ich sehe dich“-Blick an. Dann war er verschwunden.
Jetzt war es wohl amtlich – ich war irre.
Noch ehe ich mich bewegen konnte klopfte mir ein älterer Herr mit grauem Haar auf die Schulter und sagte „Was war das denn für ein Idiot? Hast du Probleme mit der Steuer?“
„Wie bitte?“ entgegnete ich überrascht.
„Na der sah aus wie einer Steuerfahnder oder Finanzbeamter.“
Träumte ich immer noch, oder gab es wirklich jemanden, der den Dämon auch gesehen hatte? Hoffnungsvoll fragte ich „Sie haben ihn gesehen?“
„Ja natürlich. Diese hässlich-grüne Krawatte könnte nicht mal ein Blinder übersehen.“ Er setzte sich mit einem Lächeln an meinen Tisch. Die dunkle Atmosphäre war verschwunden. Die Lampen leuchteten grell. Dennoch wirkte jede Lichtquelle angenehm wie ein lebenspendender Sonnenstrahl. Der Mann wirkte fit. „Ich bin Ernst. Und wer bist Du mein Junge?“
„Ich bin Bo“, antwortete ich.
Er musterte mich mit freundlichen Augen und fragte „Du siehst aus, als ob du Probleme hast. Willst du mir davon erzählen?“
Ich hatte Probleme. Ich halluzinierte, ich träumte, die Realität glitt mit durch die Finger. Aber dieser Mann war nicht der Richtige. Ich musste mit Max reden.
„Nein danke. Ich bin nur hier, weil ich Max suche“.
Mit einem wissendem Kopfnicken sagte er nur „Verstehe“.
Ich war leicht verwundert. „Sie kennen Max? Sie wissen wie ich zu ihm komme?“
Der alte Mann stand auf, ohne sein freundliches Lächeln zu verlieren. „Wenn Max hier ist, dann nur an einem Samstagabend. Heute ist Donnerstag, da wirst du ihn hier nicht treffen. Du siehst erschöpft aus, Kleiner. Geh nach Hause und schlaf dich aus.“
Wie ein Lemming gehorchte ich, ging nach Hause und fiel ins Bett. Erstaunlicherweise schlief ich diese Nacht traumlos. Am nächsten Morgen war ich erholt wie lange nicht mehr. Doch die Zeit bis Samstagabend zog sich endlos hin und kostete viel Kraft.
Als ich dann am Samstag in die Kneipe kam, saß Max allein am Tisch und schien schon auf mich zu warten. Ich setzte mich zu ihm. Es sprudelte sofort aus mir heraus. Ich erzählte ihm von Bo, von Friedrich, dem Gefühlschaos der letzten Tage. Max hörte einfach nur zu. Bis dahin hatte ich noch nie jemandem etwas von den Zügen in meinem Kopf erzählt. Aber Max machte es mir leicht. Er sagte nichts, er lachte nicht, er saß einfach nur da und hörte sich mit Interesse meine Geschichte an.
Ich erinnerte mich daran, wie ich die Züge zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Es war zu Weihnachten, als ich fünf Jahre alt war. Alles war weihnachtlich geschmückt. Ein Tannenbaum mit Lametta und Kugeln aller Farben behangen. Am Vormittag hatten mein großer Bruder Markus und ich beim Baumschmücken mitgeholfen. Und dadurch gab es kein einheitliches Gesamtbild in einer Farbe. Wir hingen jede Farbe an den Baum, die wir finden konnten. Und wir waren stolz wie Oskar, den buntesten Weihnachtsbaum in der ganzen Stadt zu haben. Am frühen Abend saßen wir dann als Familie im Wohnzimmer bei gedämpftem Weihnachts-Licht. Wir Kinder hoppelten von einer Pobacke auf die Andere. Die Zeremonie mit Weihnachtsgeschichte und Singen vor der Bescherung erschien uns immer endlos zu dauern. Dennoch wurde dann endlich der Sack mit den Geschenken hervorgeholt.
Markus bekam als älterer seine Geschenktüte zuerst. Er kramte darin herum und seine Augen leuchteten. Als ich meine Tüte in die Hand bekam, zog Markus gerade eine große Lego-Box hervor. Meine Vorfreude verdreifachte sich. Ich schaute in meine Tüte und konnte nur Stoff erkennen. Es waren rote und blaue Socken. Das Rot der Socken schien die ganze Tüte zu erleuchten. Sie schienen die ganze Tüte auszufüllen. Diese roten Socken waren das einzige was ich anstarren konnte. Ich sah nichts anderes. Ich hatte mich so sehr auf das Lego gefreut. Doch ich konnte kein Lego sehen. Alles was ich sah waren rote Socken. „Ich wollte auch…“ stammelte ich. Langsam legte ich meine Tüte beiseite und griff nach der Lego-Kiste meines Bruders. Er witterte etwas und zog die Kiste näher an sich heran. In meinem Kopf fuhr der erste Zug los. Meine Mutter wollte schlichten und hob meine Geschenktüte auf. Als ich hineinblickte waren wieder nur rote Socken zu sehen – der zweite Zug fuhr los. Zum ersten Mal stand ich bewusst auf den Schienen und wusste, dass ich von beiden Zügen zermalmt werde würde. Ich versuchte mich von den Ketten auf dem Bahngleis loszureißen. Das versuchte ich nicht nur in meinem Kopf. Ich versuchte in der idyllischen Weihnachtsbescherung mein Geschenk zu bekommen – mein Geschenk war eine Lego-Kiste! Ich riss mich herum und sprang meinen Bruder an, um ihm seine (nein: meine!) Lego-Kiste zu entreißen. Doch so wie er den ersten Versuch gewittert hatte, wusste er auch diesmal was ich wollte. Er war immer größer, stärker und schneller als ich. Er wich meinem Sprung geschickt aus und schubste mich dabei an sich vorbei. Ich verlor das Gleichgewicht und im Fallen bekam ich einen Ast unseres knallbunten Weihnachtsbaumes zu greifen. Während ich in der realen Welt unter dem umfallenden Weihnachtsbaum begraben wurde, begruben mich im Inneren meines Kopfes die Überreste zweier aufeinanderprallender Züge.
Es war das erste Mal, dass ich die Explosion so bewusst miterlebte. Jede Einzelheit brannte sich in mein Gedächtnis ein und ich bekam einen Schock. Ich war so geblendet und erschrocken, dass ich das Bewusstsein verlor und erst wieder im Zimmer der Notaufnahme aufwachte. Etwas orientierungslos schaute ich mich langsam um. Als ich zur Tür blickte sah ich wie meine Mutter winkte und mein Vater mit Markus die Notaufnahme verlies. Und mein Bruder hatte seine Legokiste unter dem Arm. Allein dieses Bild ließ in Sekundenbruchteilen zwei weitere Züge losfahren. Als ich mich diesmal von den Ketten befreien wollte, drückten mich die starken Arme einer Krankenschwester zurück ins Bett. Ich hatte keine Chance zu entkommen und erlebte so nun die zweite Explosion an diesem Abend. Auch dieses ausdrückliche Miterleben machte mich so fertig, dass ich wieder in die Bewusstlosigkeit fiel.
Als ich wieder erwachte war es draußen stockdunkel, drei Uhr, wie ich später erfuhr und meine Mutter schlief sitzend mit dem Kopf auf meinem Bett. Sie hatte nicht wirklich geschlafen und war sofort wach. Ich sah ihren sorgenvollen, aber auch liebenden, Blick. Sie um armte mich. Am Fußende des Bettes war meine Geschenktüte. Ich bekam sofort Panik, aber der beruhigende Blick meiner Mutter hielt die Züge zurück. Sie versuchte erst gar nicht mir die Tüte zu geben, sondern schüttete sofort alles aufs Bett. Zuerst purzelten die roten Socken heraus, doch blaue und grüne Socken deckten sie kurz darauf zu. Mir wurde etwas flau im Magen, aber die Züge schienen noch fern zu sein. Als letztes fiel klappernd eine Kiste mit genau dem Lego-Auto, das ich mir seit Monaten gewünscht hatte, heraus.
Ich machte eine Pause, trank einen großen Schluck Bier. „Seitdem erlebe ich die Züge bewusst. Und jedes Mal erschrecken sie mich aufs Neue. An schlechten Tagen kommen sie acht bis zehn Mal. An guten Tagen ein bis zwei Mal. Und in ganz seltenen Zeiten lassen sie sich eine Weile gar nicht blicken.“
Dann fügte ich hinzu. „Dieses Ereignis zu Weihnachten machte mich zum Außenseiter. Markus musste es seinen Kumpels erzählen – dadurch lachte man noch zwei Jahre in der Schule über mich. Und meine Eltern verstanden nicht, was da überhaupt geschehen ist. Ich lernte nach außen entspannt, oder wenigstens normal zu wirken, während sich im Inneren der Horror eines Zugunglücks abspielte.“
Ich überlegte, ob ich noch mehr erzählen sollte. Ich entschied mich, nun meine Frage stellen. „Die letzten Tage waren von Bo dominiert. Das war so schlimm, dass ich die Züge fast vergessen habe. Bin ich verrückt?“
Max sagte eine Weile nichts. Und dann reagierte er auf meine Frage.
„Weißt du, ab wann ein Irrer kein Irrer mehr ist?“
´Na ganz toll´ dachte ich ´ich habe meinen Yoda gefunden. Den alten Weisen, der in Rätseln spricht. ´ Aber was hatte ich denn auch erwartet? Dass er mir die Hand auflegt und ich bis an mein Lebensende glücklich bin? Als ob Max in meinen Gedanken lesen konnte sprach er weiter.
"Du hast mir jetzt dreieinhalb Stunden deine Seele ausgeschüttet. Ich bin mir sicher, dass du das Meiste davon vorher noch nie jemandem erzählt hast. Und deine einzige Frage ist, ob du verrückt bist."
Er legte eine künstliche Pause ein und ich wusste, dass nun die wichtige Antwort kommt.
„Ein Irrer ist kein Irrer mehr, wenn er begreift, dass er ein Irrer ist“
Dann stand Max auf und ging zur Toilette. Als er wiederkam hatte er schon seine Jacke an und sagte "Tut mir Leid Bo, aber ich muss jetzt los. Du schaffst das, da bin ich mir sicher. Ich wünsche dir alles Gute!"
Nach zwei Schritten kam er wieder und flüsterte mir ins Ohr. „Nicht nur der Dämon Bo kümmert sich um Dich. Du musst nur genau hinhören!“
Dann lies er mich sitzen und ging.

Addendum


Bin ich irre? Bin ich krank? Kann sein, keine Ahnung. Wichtiger ist mir die Frage nach meiner Schmerzsicherung: Ist meine Schmerzsicherung kaputt? Ja, auf jeden Fall! Aber ich habe Ideen bekommen, wie ich Alternativen für die natürliche Schmerzsicherung schaffen kann. Nächstes Mal, wenn ich angekettet auf den Gleisen stehe und die Züge anfahren höre, dann werde einfach den Kopf heben und die Augen aufmachen. Und ich werde etwas Wunderbares sehen: Himmelblau.
Letztendlich bin ich Bo! Der echte Bo! Und irgendwann werde ich dem Dämon Bo in den Arsch treten und ihm seine Party versauen!
Euer Bo (R. Derliner).

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