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Anonymität



Ich musste heute den ganzen Tag durch die Stadt gurken. Müssen Termine denn immer einfach so im Raum stehen? So als selbstverständliche Pflichtsache, ohne dass sich jemand im Vorfeld darüber Gedanken macht, ob der Aufwand auch nur irgendwie mit einem verstehbaren Nutzen in Verbindung steht? Egal, heute empfand ich das nicht und hake diese Verschwendung von Lebenszeit für mich ab.
Was ich nicht abhaken möchte, war eine Empfindung in den Bussen und Bahnen. Vielleicht bin ich hier ja etwas übersensibel oder hatte heute nur einen seltsamen Tag mit seltsamen Wahrnehmungen, aber ich empfand, wie schon sehr
lange nicht mehr, eine tiefe Entfremdung unter den Menschen. Das war heute bestimmt nicht schlimmer als sonst, aber ich empfand es in besonderer Weise. Selbst unter Rücksichtnahme auf die Großstadtmentalität mit ihrer Anonymität. Da kannst du heute in irgendeine Ecke kotzen und morgen um dieselbe Zeit wieder an derselben Ecke stehen. Da wird dich höchstens jemand darauf hinweisen, vorsichtig zu treten, weil da gestern jemand hingekotzt hätte.
Nein, auch beim Schwimmen in der großen grauen Masse gibt es eigentlich noch ein Mindestmaß an Sozialverhalten, eine kleine Ahnung von Zusammengehörigkeit. Heute habe ich nicht das Geringste davon gespürt. Jeder war so ganz in sich zurückgezogen. Auf Blickkontakt wurde gereizt reagiert, als wäre der Blickkontakt an sich schon ein Übergriff in fremde Privatsphäre. „Ich und mein Buch“, „ich und mein starrer Blick“ - überall hin, nur nicht zum Mitmenschen.
Selbst normalste Höflichkeitsformen wie jemandem den Vortritt lassen, sich nach einem Rempler mal wenigstens mit einer Geste zu entschuldigen, fielen aus.
Für mich ist dieses Thema noch nicht beendet. Vielleicht gibt es ja wirklich Tage, an denen die Menschen kollektiv unbewusst unnahbar bis feindselig sind, so wie der Mensch allgemein an sonnig lichten Tagen eine positivere Aura ausstrahlt als an solchen, die verregnet trüb sind. Was jedoch, wenn meine Wahrnehmung nicht einfach überzogen mimosenhaft ist? Was, wenn das nicht einfach mal gemeinsam schlechte Tage sind? Was, wenn wir mittlerweile in einem schleichenden Prozess schon so seelisch erkrankt sind, dass wir uns zunehmend zu nur noch ignoranten Einzelkämpfern entwickelt haben? Wenn wir, die wir nun mal schöpfungsgemäß soziale Wesen sind, aus welchen Ängsten heraus auch immer, unbewusst oder, schlimmer noch, bewusst gegen unsere eigene Bestimmung arbeiten, weil der Markt an käuflichen Ersatzbefriedigungen immer neue Produkte bietet, die uns der Verantwortung des Miteinander entheben? Ich weiß es nicht, aber ich habe kein gutes Gefühl, was unsere momentane Entwicklung angeht.

ein Tag später


Mein Eindruck von gestern wurde bestärkt. Allein dadurch, dass einer mit Kinderwagen zum Bus rennenden Frau fast vor der Nase die Tür geschlossen wurde und keiner der Fahrgäste meinte, sich hier kritisch äußern zu müssen. Ja fast meinte ich, so etwas wie Schadenfreude zu spüren. Wer sich am Leid und Schaden anderer weidet, muss eine verdammt arme Seele sein.
Wir sind scheinbar so gegeneinander eingestellt, dass wir damit allesamt unglücklich werden (oder sind wir es uneingestanden schon?) und letztlich sogar daran zugrunde gehen werden. Bezieht sich das Wir- Gefühl nur noch auf große Fußballturniere, wo sich ausgesuchte Leute die Knochen kaputt treten lassen und wenn sie dann gewinnen, fühlen sich alle, als hätten sie höchst persönlich die Tore geschossen? So, wie es für mich immer wieder belustigend ist, wenn ein von Herzverfettung bedrohter Rainer Kalmund in gewohnter Weise in Bezug auf Bayer Leverkusen vom Wir spricht, obwohl jeder weiß, dass dieser Mensch nach nicht mal fünfzig Metern Lauf tot zusammenbrechen würde. Alle wissen, dass wir ohne ein bestimmtes „Vereinsempfinden“ nicht auskommen. Menschen, die nichts mehr haben, wo sie sich zugehörig fühlen, sind einsame Menschen. Sie halten sich zwar oft damit über Wasser, dass sie für sich eine Exklusivität in Anspruch nehmen, die ihnen das Bewusstsein gibt, aufgrund bestimmten Wissens oder besonderer Aufgaben und Fähigkeiten notwendigerweise außerhalb der Gesellschaft zu stehen, zu der sie normalerweise gehören würden. Die Geschichte zeigt, dass es immer wieder solche Menschen gab und gibt, denen das Leben eine solche besondere Rolle zugedacht hat, wie ich es bei den Propheten des Alten Testaments so empfinde. Doch diese Menschen wussten tief darum und der Vollzug ihrer Lebensgeschichte hat das dann auch bestätigt. Doch im allgemeinen machen die Leute, die sich so empfinden, aus der Not der Isolation eine Tugend der einsamen Größe. Und wer hier tiefer nachfragt, stößt nicht selten auf tiefe seelische Störungen oder schwere Enttäuschungen, die in Verbitterung geführt haben. Dass wir zur Gemeinschaft bestimmt sind, davon zeugen unsere elementarsten Bedürfnisse. Sicher ist es nicht ganz unwesentlich, zu welcher Gruppe ein Mensch sich hält, hat sie doch mindestens längerfristig prägenden Einfluss auf die geistig- moralische Entwicklung. Wer so ganz auf seine persönliche Wahrnehmung zurückgeworfen ist, wo ihm niemand mehr positiv oder negativ kritische Rückmeldungen über sein Denken und Verhalten gibt, wird sich in seiner selbst konstruierten Welt verlieren.
Doch was, und hier empfinde ich wieder mein Problem, wenn eine Gesellschaft nicht mehr die Möglichkeit einer freien Integration bietet oder nicht mehr bieten kann? Was, wenn es nur noch Integration in eine kollektive Anonymität gibt und nur noch am Rande stehende Subkulturen Gemeinschaft nach ihren Regeln und Prinzipien bieten? Ich muss mir eingestehen, das ungute Gefühl hält sich.

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